Ein Gedankenexperiment


Wenn mir eine Person in der psychologischen Beratung begegnet, betrachte ich sie und ihr Verhalten als Teil verschiedener übergeordneter Systeme. Ein solches System kann etwa die Familie sein, der Kreis aus Kolleginnen und Kollegen an der Arbeit oder natürlich auch die Sportmannschaft. Kurzum: Ich bin Systemikerin. Aus der Vielfalt der psychologischen Ansätze habe ich den der Systemischen Therapie und Beratung gewählt. Diese Perspektive übertrage ich in meine Promotion. Für meine Forschungsfrage zoome ich in das sogenannte Sub-System der beiden Elternteile hinein und untersuche, wie sie gemeinsam als Paar mit Stress und Emotionen im Nachwuchsfußball umgehen. Die Herausforderung dabei ist, dass die Eltern natürlich wiederum Teil weiterer relevanter Systeme im Sport des Kindes sind: der Familie, der Zuschauer bei einem Spiel, dem Athletic Triangle aus Kind, Eltern und Trainer*in (Wylleman, 2000) oder der Elterngemeinschaft, die zum Fußballclub des Kindes gehört. Ihr merkt schon: Menschen, ihre Beziehungen und Interaktionen sind ganz schön komplex.



Im Moment stecke ich knietief in der Auswertung der Ergebnisse unserer aktuellen Studie, an der sich 330 Eltern aus Fußball-Nachwuchsleistungszentren beteiligt haben. Vielen Dank für diese breite Unterstützung! Wir hatten Eltern gefragt, welche Situationen bei den Fußballspielen ihres Kindes sie als stressig oder emotional herausfordernd erleben. Herausgekommen sind 812 Situationen, also einiges zum Analysieren für uns. Die meisten dieser Stressbeschreibungen haben sich auf das eigene Kind bezogen, beispielsweise wenn dieses nicht in der Startelf steht, keine oder nur wenig Spielzeit bekommt, gefoult oder sogar verletzt wird. Auch den Moment, wenn das eigene Kind einen Fehler im Spiel macht, haben einige der Eltern als stressig wahrgenommen – Eltern fühlen eben mit!

Beim Durchlesen der Kommentare war ich hier und da erschrocken darüber, was einige Eltern berichten. So hat ein Vater den Fußballplatz als „Schlachtfeld“ bezeichnet, und auch rassistische Kommentare von Zuschauern („Hau den Bimbo weg!“) gehörten zu den Stressoren. Und das im Nachwuchssport! Viel mehr war ich aber überrascht: Die Kategorie mit den zweithäufigsten Nennungen – nach dem eigenen Kind – hat sich auf andere Eltern und deren (Fehl-)Verhalten bezogen. Ich habe von Eltern gelesen, die in den Augen der Befragten über Spieler oder deren Leistung gelästert hätten, ihre eigenen Kinder zu aggressiven Fouls ermutigt oder Trainer*innen, Schiedsrichter*innen und andere Eltern beleidigt hätten. Einige Schilderungen haben sogar Streit und Tätlichkeiten zwischen Eltern beschrieben. Es scheint, als ob Konkurrenz auch abseits des Spielfelds ein Thema ist.

Wenn ich an den Grund zurückdenke, wieso ich zum Thema Eltern promovieren wollte, dann hätten mich die Ergebnisse eigentlich nicht überraschen dürfen. Meine Motivation ist daraus entstanden, dass Eltern im Nachwuchsfußball einen weitestgehend schlechten Ruf haben und kritisiert werden. Das wollte ich untersuchen, erklären und ändern. Ich wollte und will immer noch, Eltern unterstützen, damit sie stressige Situationen noch besser bewältigen können und als Ressource gesehen werden. Meine These: Wenn Eltern nicht in der Lage sind, sich selbst zu unterstützen, können sie auch nicht angemessen ihr Kind unterstützen. Und so traurig und schadenfroh es klingen mag: Es kann deshalb von Vorteil für mich sein, dass Eltern selbst als Ursache für Stress gesehen werden.

In meinen Überlegungen bin ich dann auf einen, wie ich finde, spannenden Gedanken gekommen, der selbstverständlich eine systemische Frage ist: Was würde passieren, wenn sich Eltern am Spielfeldrand plötzlich gegenseitig unterstützen würden? Würde weniger Fehlverhalten wahrgenommen werden? Würden Eltern dadurch weniger Stress erleben? Wäre meine Forschung dann fast überflüssig? Oder gehört das zum System Nachwuchsfußball dazu? Antworten auf dieses Gedankenexperiment habe ich noch nicht, aber ich hätte Lust, es herauszufinden. Vielleicht in einer nächsten Studie.



_____
Wylleman, P. (2000). Interpersonal relationships in sport: Uncharted territory in sport psychology research. International Journal of Sport Psychology, 31, 55–572.


Unsere Autorin bloggt seit Juli 2020 regelmäßig über ihr Forschungsthema “Eltern im Sport” und ihr Promotionsvorhaben.

Alle Beiträge von Valeria ansehen.


Schreibe einen Kommentar